Social Media Marketing in einer NGO – Interview mit Anna Preise-Kosach und Facelift 30Minutes
Im Interview vom 11. August 2022 spricht Anna Preine-Kosach, Vorsitzende des UKRAINIAN FUTURE Hilfe-Verein e.V. darüber, wie Social Media die Arbeit von NGOs prägt und wie Social Media für humanitäre Zwecke eingesetzt werden kann.
Interviewerin (I): Wie groß ist euer Verein und wie ist Euer Social Media Team (weiter SMM) organisiert?
Ganna Preine-Kosach (G): Wir haben über 100 Volunteers, die fast alle Schutzsuchende sind, und über 100 deutsche Rechtsanwälte, die juristische Unterstützung anbieten. Unsere Tätigkeit besteht aus mehreren Säulen: psychologische Unterstützung, juristischer Support, SMM und Informationsbereitstellung, IT-Lösungen für Schutzsuchende in Form einer breiten Onlineplattform.
I: Wie kam es zu der Gründung des Vereins?
G: Der Verein wurde im März 2022 mit Unterstützung des Hamburger Senats und Senator Dressel gegründet – aufgrund des Ukrainekrieges. Ich habe gleich zu Anfang die Rolle des Trouble Shooters übernommen, um die Hilfe zu koordinieren. Wir sind dann sehr schnell gewachsen. Mittlerweile haben wir Kontakte und Mitglieder in Berlin, München, Nürnberg, Frankfurt geknüpft und wir haben Angebote, unsere Arbeit und unser Know How auf Österreich, die Niederlande und sogar Kanada auszuweiten. Um Informationen vernünftig zu übermitteln und um Kontakte zu halten braucht man dringend SMM.
In Prinzip haben wir in SMM zwei Zielgruppen: Ukrainer, denen wir helfen, und Deutsche, die sich für die Hilfe interessieren und sich über die Bedürfnisse der Schutzsuchenden informieren wollen.
Kurz nach Kriegsbeginn habe ich als Koordinatorin für den deutsch-ukrainischen Krisenstab gearbeitet. Dort gab es eine Telefonhotline. Aber: Der Informationsaustausch zu Dokumenten, Registrierungsunterlagen usw. über das Telefon ist unglaublich kompliziert. Wir haben schnell gelernt, dass diese Arbeit viel einfacher über SMM erfolgen kann.
I: Welche Rolle spielt SMM, wenn wir Eure Tätigkeiten des Vereins betrachten?
G: SMM spielt eine wahnsinnig wichtige Rolle. Wir haben eine Umfrage in einer der größten ukrainischen Telegramgruppen im Ausland durchgeführt, an der 75.000 Mitglieder teilgenommen haben. Wir haben gefragt: „Wo wollen sich Ukrainer gerne informieren, bspw. über ihre rechtliche Lage?“ Trotz der vielen offiziellen Onlineangebote bevorzugen Ukrainer die sozialen Medien als Informationsquelle. Grund hierfür sind die persönlichen und individuellen Erfahrungen, die darüber vermittelt werden. 95 % unserer Volunteers sind selbst Schutzsuchende. Das bedeutet, fast alles, was wir als Verein über SMM mitteilen, aus eigenen Erfahrungen stammt. Die Bürokratie und die Gesetzgebung sind so wandelbar und intransparent, weshalb es für die Menschen auf der Suche nach Information wichtig ist, an der Erfahrung anderer teilhaben zu können – Schwarmwissen sozusagen.
I: Wie sieht die SMM Arbeit aus?
G: Für uns arbeiten über SMM Mitarbeiter. Wenn man unsere Seiten anschaut, dann sieht man vernünftige Inhalte mit Bildern und graphischer Gestaltung. Bislang waren wir vor allem auf die ukrainische Zielgruppe fokussiert, da hier riesiger Informationsbedarf bestand. Wir haben sehr professionelle Contentwriter und wir haben, in einem getrennten 8 köpfigen Team, Menschen, die aus eigener Erfahrung berichten. Dies sind selbst Schutzsuchende, die leicht verständliche Anleitungen schreiben, zum Beispiel wie man ein Jobcenter besucht, wie man Leistungen beantragt, wie man auf der Tafel etwas kriegt etc. Um solche Anleitungen zu verfassen, muss man die Dinge selbst erleben. In einem zweiten Schritt, im Hinblick auf unsere zweite Zielgruppe, brauchen wir deutsch- und englischsprachige Menschen. Unser Ziel ist es, Spenden für unsere Arbeit zu akquirieren. SMM hilft uns dabei, mehr Leute zum Spenden zu engagieren. Dieses Geld wird unmittelbar in unsere Projekte weitergeleitet. Letzte Woche beispielsweise haben wir einen gepanzerten Rettungswagen gekauft. Der Rettungswagen ist gerade über Kiew an die Front weitergeleitet worden, wo er nun zum Einsatz kommt, um Menschleben zu retten. Um diese Dinge leisten zu können, dafür müssen wir mit Menschen in Kontakt treten können und Informationen weiterleiten – das tun wir über SMM.
I: Welche SMM Kanäle sind die wichtigsten für euch?
G: Am wichtigsten für uns sind Facebook und Instagram, weil wir sehr starke Unterstützung von Meta kriegen. Dafür sind wir sehr dankbar. Meta plant die Öffnung eines offiziellen Büros in Kiew. Das gibt uns die Möglichkeit, auch vor Ort mit Menschen in Kontakt zu treten. Wir sind mittlerweile außerdem mit Tiktok in Kontakt getreten – ein völlig anderes Medium, mit dem eine jüngere Zielgruppe erreicht wird. Auf Instagram ist unsere Zielgruppe bis 35 Jahre alt, auf Facebook ab 35 Jahre. Für YouTube bereiten wir Videos vor, um Erste Hilfe im psychologische Bereich leisten zu können. Wir benutzen also verschiedene Kanäle für unterschiedliche Alters- und Zielgruppen. Wir haben auch gute Kontakte mit Google entwickelt. Unsere Webseite, die Werbung für unseren Verein schalten können wird, befindet sich ebenfalls im Aufbauprozess.
I: Es ist unglaublich, wie viel ihr in sehr kurzer Zeit geleistet habt! Wie hat sich die politische Kommunikation verändert durch die Anwendung von SMM?
G: Dadurch lässt sich unglaublich viel erreichen! Durch Videos, durch die Stimme oder durch Fotos können unfassbar viele Menschen erreicht werden. Das wird häufig unterschätzt. Gleichzeitig ist es ein wahnsinnig schwerer Job, all diese Informationen zu steuern und zu organisieren – trotz allen Tools, die dazu zur Verfügung stehen. Umso stolzer bin ich auf unser Team!
I: Gibt es noch andere Ziele, die ihr in der SMM Arbeit für die nächste Zeit habt?
G: Wir bauen gerade zwei Plattformen. Eine davon ist auf psychologische Hilfe fokussiert. Dabei soll ermittelt werden, wer dringenden psychologischen Unterstützungsbedarf hat, damit diese Menschen an unsere Psychologen vermittelt werden können. Auch unsere Volunteers sollen getestet werden. Empathie und Stressresistenz sind sehr wichtig in diesem Bereich. Wie haben schon erlebt, dass Volunteers uns verlassen mussten, weil ihr Stressresistenzniveau nicht gereicht hat.
Zweite Plattform wird eine Applikation werden, mit der zum einen konkrete Hilfsbedarfe für Schutzsuchende ermittelt werden. Zum anderen dient diese Plattform als Jobbörse für Ukrainer:innen . Ukrainer:innen sind nicht gewohnt, Sozialeistungen zu beziehen. Sie wollen in der Regel schnell einen eigenen Job haben und ihr Leben selbst gestalten. Es gibt viele top ausgebildete Ukrainer:innen, die, wenn auch nur vorübergehend, in Deutschland super Arbeit leisten und das Land somit auch unterstützen könnten. Das sehe ich als eine Win-Win-Situation.
Wir haben schon mit anderen Jobbörsen gesprochen. Hier wird es Kooperationen geben. Ziel es, für alle interessierten Ukrainer:innen CVs automatisch übersetzen zu lassen, auf die externen Jobbörsen hochzuladen und an die Pools der Rekruiter weiterzuleiten. Damit entfällt zunächst mal die Sprachbarriere, weil dieser Prozess keine Sprachkenntnisse voraussetzt. Auch hierbei ist eine große SMM Präsenz sehr wichtig. Je mehr Menschen erreicht werden können, umso größer die Bewerbungsmöglichkeiten. Für den Mittelstand und auch für große Unternehmen können ukrainische Fachkräfte extrem vorteilhaft sein. Wir möchten ukrainische Spezialisten sowohl bei der Ausbildung als auch beim Jobeinstieg in Deutschland unterstützen UND diese Unterstützung auf dem Arbeitsmarkt in der Ukraine, wo sich möglicherweise auch für deutsche Unternehmen Einstiegschancen ergeben, nach dem Krieg fortsetzen.